Dr.
K. Peter Merk
Rechtsanwalt
Bayerisches
Oberstes Landesgericht, OLG München
RA Dr.
K. Peter Merk - Marienplatz 17 - 80331 München
Bundesverfassungsgericht
- Zweiter
Senat -
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Donnerstag, 10. August 2000
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Az.: 2 BvC 2/99
Beschwerde vom 18.11.1999 gegen den Beschluss des Deutschen
Bundestages vom 30.09.1999 - WP 95 / 98 -
Sehr geehrter
Herr Bundesverfassungsrichter Dr. Jentsch,
in obiger Angelegenheit
bedanke ich mich für Ihr Schreiben vom 05.07.2000, mit dem Sie Bedenken
gegen die Erfolgsaussichten der oben bezeichneten Wahlprüfungsbeschwerde
dargelegt haben.
Sie haben
dabei, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
den Standpunkt vertreten, dass sich die Prüfung zum einen nur auf
die substantiiert geltend gemachten Verstöße bei der Vorbereitung
und Durchführung der Wahl bis hin zur Feststellung des Wahlergebnisses
bezieht und ein so gerügter Wahlfehler grundsätzlich nur dann materielle
Relevanz gewinnt, also zu einem Erfolg der Wahlprüfungsbeschwerde
führen kann, wenn die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen
Bundestages, also die konkrete Mandatsverteilung durch diesen
Wahlfehler beeinflusst wird. Dieser Auffassung ist uneingeschränkt
zuzustimmen.
Sie gewinnt
jedoch erst dann Relevanz, wenn die Verfassungsmäßigkeit der in
Kraft befindlichen Vorschriften des Wahlrechts außer Zweifel steht.
1. Die vorliegende
Wahlprüfungsbeschwerde vertritt jedoch gerade die Auffassung, dass
die in Kraft befindlichen Vorschriften des Wahlrechts wegen Verstoßes
gegen Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG verfassungswidrig sind.
Sie haben unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts auch ausgeführt, dass das Bundesverfassungsgericht
im Wahlprüfungsverfahren nicht nur die zutreffende Anwendung, sondern
eben auch die Verfassungsmäßigkeit der in Kraft befindlichen Vorschriften
des Wahlrechts prüft. Zu dieser Kompetenz des Gerichts zur Normenkontrolle
auch im Wahlprüfungsverfahren, sei noch auf Maunz-Dürig verwiesen.
Dort wird ausgeführt:
„Die Normenkontrollbefugnis des BVerfG besteht unabhängig von der
konkreten Verfahrensart und ist daher auch im Verfahren nach Art.
41 Abs. 2 GG, § 13 Ziff. 3 BVerfGG nicht ausgeschlossen." (Maunz,
in: Maunz-Dürig, Art. 41, Rdn.16; Seiffert-Geeb, I A 10, S. 140
b; Seiffert, BWahIG, S. 355, von Mangold-Klein, GG, S. 925; BVerfGE
1, 237 f).
Das Bundesverfassungsgericht prüft somit im Sinne einer Normenkontrolle
das materielle Wahlrecht de lege lata. Problematisch ist, dass es
sich bei dem geltenden Wahlrecht nicht nur um einfaches Recht handelt,
sondern vielmehr Art. 38, Abs. 2, 1. Hs. GG Verfassungsrang zukommt.
Diese Regelung ist wortidentisch mit § 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahIG.
Das Bundesverfassungsgericht ist aber nicht deshalb an der Durchführung
einer Normenkontrolle dieser Regelung gehindert, weil es sich eben
nicht nur um einfaches Recht, sondern gleichzeitig auch um Verfassungsrecht
handelt. Normative Grundlage des aktiven Wahlrechts ist Art. 20
Abs. 2 GG. Trotz der grundsätzlichen Gleichrangigkeit aller Normen
des GG räumt die Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG den
Artikeln 20 und 1 GG eine Sonderstellung ein, die dazu führt, dass
es
„im Verhältnis zwischen Art. 20 und den Detailvorschriften des GG
eine Art „verfassungskonformer" Auslegung gibt, was dem Art.
20 GG gegenüber den anderen Verfassungsbestimmungen absolute Durchschlagskraft
in allen Interpretationsfragen sichern würde." (Roman Herzog,
in: Maunz-Dürig Kommentar zum GG, Art. 20 Abschnitt I, Rdn. 22)
Art. 38 Abs. 2, 1. Hs. GG kann daher grundsätzlich auf seine Vereinbarkeit
mit den Staatsfundamentalnormen der Art. 20 Abs. 2 und Art. 1 Abs.
1 GG geprüft werden. Der hier in Frage stehende Art. 38 Abs. 2,
1. Hs. GG (sowie § 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahIG) stellt daher entweder
eine lex specialis zu Art. 20 Abs. 2 GG dar oder es liegt ein innerer
Widerspruch der Verfassung vor, der nur dadurch aufgelöst werden
kann, dass Art. 38 Abs. 2, 1. Hs. GG wegen Verstoßes gegen die Staatsfundamentalnormen
der Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG als verfassungswidrig
und damit als nichtig zu qualifizieren ist. Da es sich bei Art.
38 Abs. 2, 1. Hs. GG um eine „Ausführungsbestimmung" zu Art.
20 Abs. 2 GG (und zu Art. 1 Abs. 1 GG) in dem von Herzog formulierten
Sinn handelt, ist eine solche Konsequenz nicht von vornherein ausgeschlossen.
Der Geltendmachung der Verfassungswidrigkeit des Art. 38 Abs. 2,
1. Halbsatz GG stehen daher keine prinzipiellen rechtlichen Einwände
entgegen. Sollte nun das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis
kommen, dass Art. 38 Abs. 2, 1. Hs. GG (bzw. § 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahIG)
mit Art. 20 Abs. 2 und mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar sind, so
käme es auf die zutreffende Anwendung der Wahlvorschriften de lege
lata nicht an.
Es ergäbe sich vielmehr eine grundsätzliche Verfassungswidrigkeit
der angegriffenen Bundestagswahl, die zu einer Änderung der wahlrechtlichen
Regelungen, jedenfalls für die Zukunft, führen würde.
Eine derartige Situation hat das Bundesverfassungsgericht bereits
in der Vergangenheit festgestellt, als es um den Regelungsgehalt
des § 48 Abs. 1 BWahIG ging. Hierzu hat das Gericht ausgeführt:
„Der einschränkende Regelungsgehalt des § 48 Abs. 1 BWahIG ist bisher
nicht erkannt worden......“
Hieraus wird deutlich, dass die jahrzehntelange, rechtlich
unumstrittene Auslegung des § 48 Abs. 1 BWahIG und zuvor des § 54
BWahIG (1953) der im Wahlrecht im besonderen Maße gebotenen Rechtsklarheit
(vgl. BVerfGE 79, 161 <168>) nur scheinbar genügte. Der bis
dahin der Norm des § 48 Abs. 1 BWahIG beigemessene Regelungsgehalt
erschien als gültiger Bestandteil des Wahlrechts, auf dessen Wirksamkeit
Wähler und Wahlbewerber ihre Entscheidungen ebenso gründeten, wie
der Deutsche Bundestag, Abgeordnete und Fraktionen. Auf dieser Grundlage
hat das Bundesverfassungsgericht zwar die Wahlprüfungsbeschwerde
(2 BvC 28/96) zurückgewiesen, gleichzeitig jedoch die bisherige
Auslegung des § 48 Abs. 1 BWahIG für die Zukunft als verfassungswidrig
angesehen. Auch vorliegend wurde die Altersgrenze des Art. 38 Abs.
2, 1. Hs. GG (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahIG) bis heute nicht in
Frage gestellt.
2. Auf dieser
Grundlage behauptet nun die Wahlprüfungsbeschwerde die Verfassungswidrigkeit
des Art. 38 Abs. 2, 1. Hs. GG (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 BWahIG) mit der
Begründung, dass diese Regelung den Grundsatz der Allgemeinheit
der Wahl, der in den Schutzbereich des Ewigkeitsvorbehalts des Art.
20 Abs. 2 GG einbezogen ist, verletzt.
Sie haben
sich in Ihrem Schreiben vom 05.07.2000 hierzu auf den Standpunkt
gestellt, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeinheit
der Wahl nicht dargelegt worden sei. Sie führen hierzu zutreffend
aus, dass der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl den unberechtigten
Ausschluss von Staatsbürgern von der Teilnahme an der (aktiven)
Wahl untersagt.
Er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen von der Ausübung
des Wahlrechts auszuschließen und fordert, dass grundsätzlich jeder
sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise soll ausüben können (BVerfGE
58, 202 <205>). Beeinträchtigungen der Allgemeinheit bedürfen
eines besonderen rechtfertigenden Grundes. Begrenzungen des
allgemeinen Wahlrechts sind „verfassungsrechtlich zulässig, sofern
für sie ein zwingender Grund besteht" (BVerfGE 28, 220
<225>; 36, 139 <141>).
Mit diesem Standpunkt besteht uneingeschränktes Einverständnis der
Beschwerdeführer. Die Beschwerdeführer vertreten gerade den Standpunkt,
dass durch die von Art. 38 Abs. 2, 1. Hs. GG gezogene Altersgrenze
eine „bestimmte Bevölkerungsgruppe" aus politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts ausgeschlossen
wird und damit der Grundsatz, wonach jeder sein Wahlrecht in möglichst
gleicher Weise soll ausüben können, verletzt wird.
Für den Ausschluss der unter 18-jährigen ist bei sachlicher Betrachtung
weder ein zwingender Grund, noch ein besonderer rechtfertigender
Grund ersichtlich. Hierzu tragen Sie in Ihrem Schreiben vor:
„Es ist von jeher aus zwingenden Gründen als mit dem Grundsatz der
Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden, dass die Ausübung
des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters geknüpft wird."
Es mag sehr wohl sein, dass dies „von jeher" so gesehen wurde.
Dies bedeutet jedoch - wie bei § 48 Abs. 1 BWahIG - keineswegs,
dass es sich dabei um einen zwingenden Grund oder um einen besonders
rechtfertigenden Grund handelt.
Weder die Literatur noch die Rechtsprechung haben hierzu bis heute
irgendwelche tragfähigen Aussagen gemacht außer der Auffassung von
Maunz, wonach sich die vorgegebene Altersgrenze ohne weiteres „aus
dem Wesen des aktiven Wahlrechts"ergäbe und außerdem „historisch
erhärtet" sei. (Maunz, in: Maunz-Dürig, Kommentar zum GG,
Art. 38 GG Rdn.40).
Diese Position stellt jedoch ersichtlich kein sachliches Argument
im Rechtssinne dar, sondern postuliert einen Standpunkt, der schlichte
Vorurteile aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportiert,
ohne dass damit eine tragfähige Begründung formuliert würde.
Dabei mag es, entsprechend Ihrer Auffassung nicht völlig ausgeschlossen
sein, dass eine Altersgrenze für das aktive Wahlrecht verfassungsrechtlich
grundsätzlich zulässig sein kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass
es die heute geltende Altersgrenze des 18. Lebensjahres ist. Im
Urbestand des Grundgesetzes lag diese Altersgrenze bei der Vollendung
des 21. Lebensjahres. Mit Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes
vom 31.07.1970 BGBI. I, S. 1161 wurde dann das Grundgesetz dahingehend
geändert, dass in Art. 38 Abs. 2, 1. Hs. GG die Altersgrenze von
der Vollendung des 21. Lebensjahres auf die Vollendung des 18. Lebensjahres
gesenkt wurde. Hieraus ergibt sich, dass jedenfalls die konkrete
Altersgrenze keineswegs sakrosankt ist, sondern sich den gesellschaftlichen
Entwicklungen anzupassen hat. Dies ist nicht anders als bei der
im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingetretenen
Veränderung der Vorstellung von Ehe und Familie, die ursprünglich
eine Einheit bildeten und heute durchaus differenziert gesehen werden,
was nicht zuletzt daran zu erkennen ist, dass die gleichgeschlechtliche
Lebensgemeinschaft an den Status der Ehe angenähert werden soll,
ohne dass hier behauptet würde, es handele sich um eine Familie.
Auch im Bereich des aktiven Wahlrechts kann das Grundgesetz nicht
ohne Beachtung des Wandels der gesellschaftlichen Wirklichkeit angewandt
werden, die heute dadurch gekennzeichnet ist, dass in einer Reihe
von Bundesländern die Altersgrenze des aktiven Wahlrechts bereits
reduziert wurde. Nicht umsonst hat sich das Deutsche Kinderhilfswerk
(DKHW) als Institution und gesellschaftliche Kraft dem Verfahren
als Unterstützer angeschlossen. Auch die im Laufe der Jahre sich
entwickelnde Vorstellung von der Subjektstellung des Kindes kann
nicht außer Betracht bleiben. Zu zitieren ist hier Münder, Kommentar
zum KJHG/SGB VIII .4.3. zu § 1 KJHG.:
„Im Verhältnis Minderjährige-Eltern-Staat hat sich eine zunehmend
als gesichert anzusehende Rechtslehre (vgl. insbesondere Bockenförde,
1980; Ossenbühl 1981, Zeidler 1983, Zacher 1989, Reuter, AcP 1992,
108 ff.; Ollmann FamRZ 1992, 388) und Verfassungsrechtsprechung
(insbesondere BVerfGE 10, 59 ff.; 24, 119 ff.; 37. 217 ff.; 59,
360 ff.; 60, 79 ff.; 68, 176 ff. sowie die im folgenden noch gesondert
behandelten Entscheidungen) herausgebildet. Zentraler Ausgangspunkt
ist Art. 6 Abs. 2 GG, wonach die Pflege und Erziehung der Kinder
als natürliches Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende
Pflicht bezeichnet wird, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft
wacht. Damit ist, entsprechend einem liberalen Verfassungsverständnis
(Grundrecht als Abwehrrechte gegen den Staat), zunächst die Abwehrdimension
des Elternrechts gegen staatliche Eingriffe angesprochen. Beim Elternrecht
handelt es sich aber um ein besonderes Abwehrrecht: „Eine Verfassung,
welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertesystems
stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich
niemanden Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht
zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen
respektieren." (BVerfGE 24, 144). Damit ist das Elternrecht
Freiheitsrecht gegen staatliche Eingriffe, den Eltern verliehen
als fremdnütziges Recht im Interesse ihrer Kinder. Das BVerfG folgt
nicht einer „etwa mythischen Vorstellung von Familieneinheit (Zeidler
1983, 573), sondern sieht mögliche Interessengegensätze zwischen
Minderjährigen und Eltern. Ausgehend von dem generellen verfassungsrechtlichen
Bemühen dem Abhängigen jeglicher Art entgegenzutreten, hat das BVerfG
die Grundrechtsposition Minderjähriger in Verknüpfung von Art. 6
Abs. 2 Satz 2 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt und so sind Minderjährige
als Rechtssubjekte vom BVerfG anerkannt worden (Reuter, AcP 1992,
111 ff.). Entsprechend der allgemeinen verfassungsrechtlichen Weiterentwicklung
unter dem Sozialstaatsprinzip des GG ist Art. 6 GG aber nicht nur
ein Abwehrrecht, sondern beinhaltet die Verpflichtung des Staates,
„positiv die Lebensbedingungen für ein gesundes Aufwachsen des
Kindes zu schaffen" (BVerfGE, 24, 145; BVerfGE 56, 384)."
Diese Entwicklung gipfelt heute nach langem gesellschaftlichen Kampf
im Recht des Kindes auf Umgang, das auf diese Weise Subjekt des
Umgangs wird und nicht mehr, wie in der Vergangenheit, Objekt des
Umgangsrechts anderer.
Weiter hat sich heute, wiederum nach langen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen,
der Anspruch des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung durchgesetzt.
Schließlich kann nicht außer Betracht bleiben, dass die UN-Konvention
über die Rechte des Kindes in Art. 12 weitgehende politische partizipatorische
Rechte zusichert.
In der Literatur ist es anerkannt, dass es sich beim Grundsatz der
Allgemeinheit der Wahl um einen Grundsatz mit besonderem dynamischen
Charakter handelt, der eine ständige Überprüfung und Anpassung der
Beschränkungsgründe an die sich ändernden gesellschaftlichen Umstände
fordert (Siegfried Magira in: Sachs, Grundgesetzkommentar, München
1996, Art. 38 Rdn.82).
Empirische Befunde der kognitiven Entwicklungsforschung ergeben
nun:
„Dass in der Altersspanne zwischen 12 und 14 Jahren bei fast allen
Jugendlichen ein intellektueller Entwicklungsschub stattfindet,
der sie dazu befähigt, abstrakt hypothetisch und logisch zu denken.
Parallel hierzu steigt in dieser Altersspanne auch die Fähigkeit
an, sozial, ethisch und politisch zu denken und entsprechende Urteile
abzugeben. Wollen wir von einer Reife der Urteilsfähigkeit - nicht
der gesamten Persönlichkeit - sprechen, dann ist sie in diesem
Alter gegeben. Regeln und Werte können nach dem 14. Lebensjahr
unabhängig von eigenen Interessenlagen wahrgenommen und umgesetzt,
die Intention der Handlungen anderer können erkannt und berücksichtigt,
komplexe Zusammenhänge intellektuell verstanden werden. Aus diesen
Überlegungen heraus spricht vieles dafür, das Wahlrecht auf ein
Alter von 14 Jahren abzusenken. Der Gesetzgeber würde mit einer
Senkung des Wahlalters gesicherten Entwicklungserkenntnissen gerecht
werden und auch der Tatsache Rechnung tragen, dass sich die Lebensbedingungen
von Jugendlichen in diesem Altersabschnitt inzwischen spürbar verändert
haben." (Klaus Hurrelmann, Für eine Herabsetzung des Wahlalters
in: Christian Palentien/Klaus Hurrelmann, Hrsg. Jugend und Politik,
2. Aufl., Neuwied, 1999, S. 288).
Diese Überlegungen dienen nun nicht dazu, die Verfassungswidrigkeit
des Art. 38 Abs. 2, 1. Hs. GG auf die Altersgruppe der 14 - 18jährigen
Bürger zu beschränken. Es verbleibt vielmehr bei dem uneingeschränkten
Vorbringen der Beschwerdeführer. Aus den Ergebnissen der kognitiven
Entwicklungsforschung wird jedoch ersichtlich, dass sich die gesellschaftlichen
Verhältnisse nachhaltig verändert haben und der dynamische Charakter
des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl es erfordert, die bestehende
Altersgrenze einer grundsätzlichen sowohl quantitativen als auch
qualitativen verfassungsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen.
Hierzu ist nochmals darauf zu verweisen, dass es sich nach Auffassung
von Herzog und im übrigen der ganz herrschenden Lehre beim aktiven
Wahlrecht um die „ursprünglichste und direkteste Form der Ausübung
von Staatsgewalt handelt" (Maunz, in: Maunz-Dürig, Art. 20
GG Rdn.8) und „das Wahlrecht das vornehmste Recht des Bürgers im
demokratischen Staat ist" (BVerfGE 1, 14 <33>). Es handelt
sich unstreitig um das politische Grundrecht (BVerfGE 1, 208 <242>;
Michael Sachs, GG, Art. 38 Rdn.100).
Deshalb stellt sich vorliegend neben der Frage des Verstoßes gegen
Art. 20 Abs. 2 GG auch die Frage des Verstoßes gegen die Menschenwürde
des Art. 1 Abs. 1 GG. Nach Auffassung der Beschwerdeführer werden
diejenigen Menschen deutscher Staatsangehörigkeit, die das 18. Lebensjahr
noch nicht vollendet haben, im Sinne der Dürig'schen Formel zum
Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt.
„Konsequenz ist ein entsprechendes Verständnis der Wahlrechte (z.B.
Art. 38, 29 und 33 GG) und Grundrechte auf demokratische Teilhabe:
sie sind – zumal im Verbund mit der politischen Dimension der Art.
5 und 8 GG (.....) als „funktionelle Grundlage der Demokratie"
konkrete Ausformung der aktivbürgerlichen „Schicht" der Menschenwürdeklausel.
Es wäre z.B. auch ein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn einzelne
Gruppen von Bürgern (etwa „die Alten") von ihren Wahlrechten
ausgeschlossen würden: sie würden zum Objekt staatlichen Handelns
(mit Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Raum) und verlören
ihre Identität als Person "(Peter Häberle in Isensee/Kirchhof,
Hrsg. Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, Grundlagen von Staat und
Verfassung, § 20 Rdn. 69). Dieser Position von Häberle ist uneingeschränkt
zuzustimmen.
Ersetzt man in dieser Argumentation - und nichts spricht gegen die
Zulässigkeit einer solchen Ersetzung -„die Alten“ durch
„die Jungen“, so wird das hier diskutierte Problem offenbar.
Nachdem Grundrechtsträger und insbesondere Subjekt des Art. 1 Abs.
1 GG der Mensch ist (ohne Altersgrenze nach oben oder nach unten),
ergibt sich die unabweisbare Feststellung, dass „die Jungen"
in ihrer Würde nicht anders bewertet werden können als „die Alten",
mit der Folge, dass die Ausgrenzung der einen Gruppe in gleicher
Weise gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstößt wie die Ausgrenzung der anderen
Gruppe. Nach der hier vertretenen Auffassung ist mit den in der
Begründung der Wahlprüfungsbeschwerde angestellten Erwägungen deshalb
sehr wohl der Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der
Wahl dargetan.
Sie führen allerdings dabei zu Recht aus, dass Verfassungsprinzipien
sich in der Regel nicht rein verwirklichen lassen; ihnen ist genügt,
wenn die Ausnahmen auf das unvermeidbare Minimum beschränkt bleiben.
Genau dieses unvermeidbare Minimum ist jedoch vorliegend zu hinterfragen.
Für die bestehende Altersgrenze der Vollendung des 18. Lebensjahres
sind jedenfalls heute weder zwingende Gründe, noch besondere rechtfertigende
Gründe ersichtlich.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Merk
Rechtsanwalt
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